Plastik Passion - Ausdrucksmaschine Photoshop
Zwei Fotoserien.
Als „neomanieristisch“ kann man versuchsweise den Zugang zum Kreativen fassen, der noch immer (wenn auch nicht im engeren Feld der High Art) quantitativ dominiert und fast immer missrät: Gemeint ist alles, was etwa auf dem Feld der Malerei nicht dem Realismus verschrieben, frei von (technischen) Fertigkeiten irgendeiner Poetik, doch auch nicht völlig abstrakt ist; was subjektiv eine „innere Welt“ aus der „reinen Fantasie“ schöpfen möchte, seien es nun Wunschwelten oder Albtraumszenarien. Primär selbsttherapeutische Kunst, die keine Gesellschaftskritik betreibt, keine tiefer gehende „Aussage“ anstrebt, die einer allgemeinen Bedeutung wenig, einer persönlichen „Berührung“ jedoch viel anbietet, was womöglich, wie Kunsttherapeuten glauben, ein Tor zur „Seele“ des Fertigers öffnet.
In einem solchen Sinne, wenn Hobby-Künstler, -Dichter und -Musiker mehr der Vorstellungskraft und dem Gefühl vertrauen als der bloßen ‚Naturnachahmung’ oder irgendeinem abstrakten Konzept, setzt der Fertiger statt des leitenden Prinzips der Mimesis auf die reine Fantasie. Damit gewinnt die ‚subjektive’, das heißt von der Innenerfahrung ausgehende schöpferische Leistung einer solchen aufs Fantastische und Imaginäre abzielenden „Kunst“ nahezu ausschließliche Bedeutung. Repräsentiert wird keine Botschaft, keine Aussage, sondern bestenfalls die innere Welt des sich Ausdrückenden; hier regiert, mit einem sprechenden Begriff Gottfried Benns, die „Ausdrucksgebärde“ in reinster Form. Leuchtendes Vorbild im Positiven ist der klassische Manierismus eines Greco, Bosch, Breughel oder Goya, später gewisse surrealistische Arbeiten. Obzwar meist abstrakt und immer sehr expressionistisch, handelt es sich um alles andere als abstrakten Expressionismus. Die Übergänge zum Spirituellen, zum Esoterischen und zum Kitsch sind hier naturgemäß fließend.
Man darf sich darüber nicht täuschen, auch der Leitstern eines solchen fantasiebetonten „Kunst“-Schaffens ist ewig, wie der der Mimesis oder der Abstraktion, und keineswegs passé; er wird nur im Kunstbetrieb längst nicht mehr zentral verhandelt. „Die aufgeklärte Vernunft kann nicht zugestehen, dass in ihr unzugängliche, unaufgearbeitete, unbeleuchtete Dunkelzonen gibt; die Fantasie soll die Grenzen der Vernunft nicht übersteigen dürfen.“(1) So haben erst die Moderne und namentlich der Surrealismus „durch eine Entfesselung der subjektiven Fantasie all jene verdrängten, unterdrückten Wesen und Phantasmen aus ihrer Jahrhunderte langen Randexistenz herauslassen und unter uns aussetzen [können].“(2)
Man wird also nicht fehlgehen, wenn man vermutet, dass solcherlei Fantastisches oder, wenn man so möchte, „vulgärmanieristisches“, rein quantitativ das Meiste stellt, was realiter an „Kunst“ geschaffen wird – selbstverständlich zum großen Teil abseits des Betriebs, von Abiturienten heimlich oder parallel zum Studium an der Akademie, von PädagogInnen, die sich ausdrücken möchten und von psychisch Kranken im Rahmen von Kunsttherapiesitzungen usw.
Damit der Begriff Sinn macht, muss man noch einen zweiten Wesenszug der (neo-)manieristischen Kunst herausstreichen, der sie mit dem Kitsch verbindet: das Prinzip der Anhäufung. Das meint entweder viele, allzu viele (unpassende) Elemente nebeneinander, oder die Form wird einem ursprünglich andersartigen Gegenstand entliehen. Moles schreibt: „Nur wenige der großen Künstler (…) sind völlig frei von dieser Tendenz, die sich dadurch ausdrückt, dass die Leere durch überreichlich viele Mittel ‚gestopft’ wird (…). Die Akkumulation des Religiösen und des Heroischen, des Erotischen und des Exotischen öffnet die Schleusen unseres ‚inneren Reichtums’ (…). Das Prinzip der Anhäufung ist (…) nicht ausschließlich auf den Kitsch beschränkt; dieser latente Faktor findet sich ebenso im Manierismus und im Rokoko und macht es leicht, diesen Kunstrichtungen den Kitsch aufzupropfen, leichter als der klassischen oder der geometrischen Reinheit.“(3)
Gemeint ist mit einem solchen, stets vollständig ironiefreien Zugang zum Kunstschaffen, anzutreffen etwa auch in der authentischen („amerikanischen“) Rockmusik im Gegensatz zu reflektierterem „britischem“ Pop, aber auch im Fantasy-Roman usw. Ein fantasie- oder zumindest stark gefühlsbetonter Zugang zur Kunst unter einem absoluten Primat des Ausdrucks, gern über irreale Weltschöpfungen, ein Drang, der sich etwa, auf die bildende Kunst bezogen, in ganz unterschiedlichen Stilen austoben kann, zwischen magischem Realismus und symbolischer Abstraktion, zwischen Surrealismus und psychedelischer Kunst; häufiger aber ist, jenseits der Meilensteine der Kunst eine Art privatistischer „Gefühlssurrealismus“ ohne theoretische Reflexion des Surrealen, ohne Breton und die Gruppe, ohne die Weltrevolution und den Bezug auf Freud, wenn man so will.
Nicht uninteressant ist gleichwohl der Versuch einer Dekonstruktion solcher Amateurmalerei. Simple Filterfunktionen (Photoshop) helfen das neomanieristische Element einiger Beispielbilder (Serie I, private Malerei, entstanden 1987 ff.) auf technologische Weise zu hinterfragen und zugleich herauszustellen. Sowohl die Ausdrucksgebärde als auch das Unreine, Angehäufte der Ausgangsbilder bleiben in den Serie II erhalten, jedoch ist hier keine Fantasie mehr am Werk und kein psychisches Innen drängt nach außen. Und doch erscheint fast noch fantastischer, was sich dem Auge des Betrachters hier offeriert. Mal scheinen die Farben wie Radioaktivität aus sich selbst heraus zu strahlen oder sie sehen aus wie unter einer Wachsschicht begraben.
Was für einen Bilder-Status sind derartige Hybride? Ist das nur bearbeitete Fotografie neomanieristischer Amateur-Malerei? Oder sind es mutierte Fotografien, die solche „Malerei“ als Material nutzen? Und was geschieht mit der Ausdrucksgebärde? Plastik-Emotion, zu Pixeln gefrorene Schreie, Instant-Gefühle von Photoshop ... Vielleicht ein anderer, leiserer Weg, den Status digitaler Bilder zu reflektieren.
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(1) Martin Warnke, Nah und Fern zum Bilde. Köln 1997, S. 270
(2) ebd. S. 273. Insofern, betrachtet man die starke Tradition der Ächtung des Fantastischen in der Kunst bis heute, ist Warnkes Fazit durchaus zutreffend: „Der ursprüngliche Gehalt des Fantasiebegriffs (...) ist allenfalls im Wort ‚Phantasmen’ noch erhalten: Nach ihm ist in der Fantasie die gegebene Wirkung ein verschönerter Mantel, unter dem Chimären und Monster versteckt sind. Dieser ursprüngliche Sinn des Fantasierens ist in der Moderne zum Programm der Avantgardisten geworden; deshalb teilen ihre Produkte mit den alten Chimären und Monstern das Schicksal einer unbequemen und ungemütlichen Randexistenz.“ (ebd. S. 276)
(3) Abraham Moles: Psychologie des Kitsches. München 1972, S. 66